Der u.a. für das Arzthaftungsrecht zuständige VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hatte über die Klage eines Ehepaares gegen die eine Schwangerschaft der Ehefrau betreuende Frauenärztin auf Schadensersatz zu entscheiden. Die Eheleute begehrten die Feststellung, daß die beklagte Ärztin ihnen zum Ersatz des Unterhalts für ihr Kind verpflichtet sei, das mit schweren Fehlbildungen der Extremitäten geboren worden war. Die Ehefrau verlangte darüber hinaus die Zahlung eines Schmerzensgeldes. Die Kläger warfen der Ärztin vor, die Fehlbildungen während der Schwangerschaft pflichtwidrig nicht erkannt zu haben, und machten geltend, die Mutter hätte sich bei Kenntnis der schweren Behinderung für einen rechtlich zulässigen Schwangerschaftsabbruch entschieden. Die Vorinstanzen hatten der Klage im wesentlichen stattgegeben.
Der Bundesgerichtshof hat die angefochtene Entscheidung bestätigt. Das Berufungsgericht sei zunächst zutreffend davon ausgegangen, daß der zwischen der Ehefrau und der Beklagten geschlossene Vertrag über die Schwangerschaftsbetreuung auch die Pflicht der Beklagten zur Beratung der Eltern über die erkennbare Gefahr einer Schädigung der Leibesfrucht mit umfaßt habe. Die Verletzung dieser Pflicht habe das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei bejaht.
Ohne Rechtsfehler sei das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß ein Schwangerschaftsabbruch nach der medizinischen Indikation des § 218 a Abs. 2 StGB rechtlich zulässig gewesen wäre, da angesichts der zu erwartenden sehr schweren Behinderungen des Kindes sowohl die Gefahr eines Suizidversuchs als auch einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des seelischen Gesundheitszustandes der Mutter zu befürchten gewesen sei. Daß bei ihr nach der Geburt tatsächlich Depressionen aufgetreten seien, die deutlich Krankheitswert erreicht hätten, wobei zumindest in den ersten Wochen auch eine latente Selbstmordgefahr vorgelegen habe, stütze diese Prognosebeurteilung.
Auch im Hinblick auf die mögliche Überlebensrate ungeborener Kinder ab der 22. Schwangerschaftswoche sei eine Abtreibung in Fällen wie dem vorliegenden nicht ausgeschlossen. Zwar enthalte die Regelung der medizinischen Indikation anders als die früher selbständige embryopathische Indikation keine zeitliche Befristung. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei indessen kein Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, daß eine derartige Befristung in Fällen der medizinischen Indikation aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten sei. Allerdings sei der Lebensschutz des ungeborenen Kindes grundsätzlich während der gesamten Dauer der Schwangerschaft zu gewährleisten, doch könne von der Mutter, wenn schwerwiegende Gefahren für ihr Leben oder ihre Gesundheit drohten und nicht anders abgewendet werden könnten, ebenfalls grundsätzlich während der gesamten Dauer der Schwangerschaft nicht verlangt werden, die eigenen existentiellen Belange und Rechtspositionen denen des Kindes aufzuopfern. Ob allerdings im Einzelfall die Opfergrenze überschritten sei, sei nur mittels einer Güter- und Interessenabwägung zu beurteilen, die die Rechtspositionen sowohl des Embryos als auch der Mutter berücksichtige. Bei dieser Abwägung könne auch die Dauer der Schwangerschaft Berücksichtigung finden. Im vorliegenden Fall sei jedoch die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung nicht zu beanstanden. Vom Sachverhalt her gehe es hier nämlich nicht um den Fall einer „Spätabtreibung“ in den letzten Schwangerschaftswochen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hätte ein Schwangerschaftsabbruch jedenfalls noch in der 22. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden können.
Der Einwand der Revision, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Nichtdurchführung des Schwangerschaftsabbruchs und dem geltend gemachten Unterhaltsschaden bestehe nicht, weil das Kind auch bei einem Schwangerschaftsabbruch möglicherweise überlebt hätte, bleibe ohne Erfolg. Die für ihre Behauptung beweisbelastete Beklagte habe den Beweis für ein Überleben des Kindes nach einem Abbruch im konkreten Fall nicht geführt. Da ein Schwangerschaftsabbruch in der Regel die Beendigung des Lebens des Embryos zur Folge habe, spreche für den Eintritt dieser Folge eine Vermutung. Diese sei von der Beklagten nicht widerlegt worden.
Vom Schutzzweck des Behandlungsvertrages sei in Fällen wie dem vorliegenden, in denen die schwerwiegenden Gefahren für die Mutter gerade auch für die Zeit nach der Geburt drohten, auch die Vermeidung von Belastungen umfasst, die durch das „Haben“ des Kindes drohten, d.h. auch die Unterhaltsaufwendungen. Auf diese erstrecke sich daher auch die Ersatzpflicht der Beklagten.
Die Bemessung des der Klägerin zu zahlenden Schmerzensgeldes auf 20.000,– DM sei nicht zu beanstanden.
Urteil vom 18. Juni 2002 – VI ZR 136/01
Karlsruhe, den 18. Juni 2002
Pressestelle des Bundesgerichtshofs